Ist für Zwillinge das Glas halb voll oder doch halb leer? Empfinden sie es nur als halbes Dasein, wenn sie nicht zusammen sind? Für Desiree und Stella Vignes hat diese Frage eine größere Bedeutung. Das Leben, für das sie sich entscheiden, wird für immer die Beziehung zueinander prägen oder auch entzweien.
Mallard 1848. Die Leute leben und denken in Schwarz-Weiß. Weiße, das sind die mit den Privilegien, die in den schönen Boutiquen der nächstgelegenen größeren Stadt einkaufen und große Wirtschaftsdeals aushandeln.
Schwarze, das sind die, die auf Plantagen arbeiten oder für weiße Menschen den Haushalt erledigen. Das Leben in Schwarz-Weiß. Was aber, wenn die Grenze der Hautfarben nicht mehr klar verläuft? Wenn schwarze Haut langsam zu brauner wird, braune Pigmente zu Sand werden und Sand immer öfter in Creme schimmert? In “The Vanishing Half” wagt Brit Bennett dieses Gedankenspiel und erzählt, was dann alles möglich wäre.
Weiße Gesichter im schwarzen Süden
Es ist eine einzigartige Gesellschaft, die sich in Mallard entwickelt hat. Menschen, mit Vorfahren, die es satt hatten, unter den sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen ihrer dunklen Haut zu leiden. Die Idee: sich über Generationen immer heller zu verheiraten. Daraus entstanden immer hellere Kinder, die wiederum selbst die Hellhäutigsten im Dorf heirateten um ihrerseits noch weißere Nachkommen zu zeugen. Daraus entstand ein Ort, der auf keiner Karte zu finden ist, man hütet sich vor größerer Bekanntheit. Mitten im nirgendwo bei Opelousas in Louisiana, so mysteriös wie seine Einwohner selbst. Ihre Haut ist Anfang des 20. Jahrhunderts mittlerweile so hell, dass sie als Weiße durchgehen könnten. Das traut aber trotzdem niemand, auch nicht die Zwillinge Stella und Desiree Vignes, die als Erben der Mallard-Gründer behütet unter ihresgleichen aufwachsen. Beide entsprechen den Vorstellungen: As white as they possibly come.
Sie stehen sich sehr nahe, wie es Zwillinge eben sind – Sätze für die andere beenden und sich im Gegenüber als Spiegelbild betrachten. Obwohl die beiden heranwachsenden Persönlichkeiten nicht unterschiedlicher sein könnten. Desiree laut und forsch, Stella ruhig und introvertiert. In beiden aber brodelt es. Mit 17 Jahren hauen sie schließlich nach New Orleans ab, weg von der ländlichen, immer gleichen Tristesse. Bis sich eine der Verbündeten plötzlich für einen weiteren waghalsigen Schritt entscheidet, der von ihr verlangt, ihre Geschichte und Vergangenheit hinter sich zu lassen – sogar die eigene Schwester. Das Leben danach, eine andere Welt. Ein Leben in Weiß, ein Leben in Schwarz.
Spannung für Perspektiven und Generationen
Die Perspektiven und Generationen wechseln oft und hart. Bei genauerem Hinspüren gibt es vier Protagonistinnen, eigentlich sogar fünf. Zwischendurch wünscht man sich nichts sehnlicher, als zu erfahren, wie sich die Lebensläufe erschließen werden. Bennett hält den Bogen aber stramm und spoilert nicht – ein kluger Spannungsaufbau ist für so viel Geschichte eben dringen notwendig um nicht abzudriften. Zu den Themen Ethnizität, Rassentrennung, gemischte Beziehungen, Mutter-Tochter-Dynamik und “White Guilt” gesellen sich im Laufe des Buches noch zwei unerwartete: Transgender und Homosexualität.
Überraschend ist auch, wie geschickt Bennett die vielen Perspektiven und diese unglaublich anspruchsvolle Themenvielfalt ineinander verstrickt und zu einem rundum feinmaschigen und wohlansehnlichen Pullover formt. Das gelingt ihr vor allem durch diesen präzisen Spannungsbogen, der sich durch die Familiengeschichte über Generationen hinweg spannt und erst sehr spät entlädt.
“The Vanishing Half” ist ein Buch, das nicht in den Tiefen der Bücherregale verschwinden wird. HBO sicherte sich 2020 die Filmrechte, um die Vignes Schwestern und ihre Familiensaga auf die Leinwand zu bringen. Ein Datum gibt es dafür zwar noch nicht, aber wer es nicht erwarten kann, dem sei schon mal das Buch wärmstens ans Herz gelegt. Danach lässt es sich auch leichter darüber debattieren, wie gut die Film-Adaption gelungen ist.