Die Leichtigkeit der Annie Brown

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Es ist mir lange nicht mehr passiert, dass ich die letzte Seite eines Buches umblättere und in dieser Sekunde die Menschen darin vermisse. Genau einen Tag ist es jetzt her, dass ich Betty Smith’s Roman „Glück am Morgen“ zu Ende gelesen habe. Und seither vermisse ich sie. Annie und Carl Brown, aus New York. Deshalb muss ich sie mir hier zurückschreiben. Vor allem Annie. Dieses liebenswürdige Wesen aus einer Zeit, lange bevor es Smartphones oder Drohnen gab.

Smiths Protagonistin lebt in den 1920er Jahren und ich nehme an, die Autorin erschrieb sich Annie wohl autobiografisch. Denn genau wie die Autorin selbst, zog die 19-Jährige mit oder besser gesagt für ihre junge Liebe in den Mittleren Westen der USA, um ihn dort heimlich zu heiraten. Natürlich waren beide Familien dagegen. Natürlich war die Beziehung der beiden stärker.

Versteckte Talente

Carl, der praktisch veranlagte, gut aussehende New Yorker, studierte Jura und war sich für keine Hilfstätigkeit zu schade. Immerhin hatte er nun eine Frau, für die er verantwortlich war. Es blieb aber nie viel übrig und die beiden waren immerzu auf der Suche nach Möglichkeiten. Nicht nur um sich über Wasser zu halten, auch um nie das aufzugeben, das sie antrieb, das ihnen eine Perspektive, eine Zukunft versprach. Für Annie war es das Schreiben. Die heitere, manchmal tollpatschig-naive Frohnatur fand immer tiefer in die Welt des Geschichtenerzählens.

Obwohl sie sich in Gesellschaft von Carls Studienkollegen für ihren kleinen Wortschatz schämte. Umso größer war ihr Erstaunen, als sie als außerordentliche Studentin an der Universität zugelassen wurde. Für ihren Dozent war es ein Talent, mit einfachen Worten zu beschreiben, was andere mit den eloquentesten nicht sagen konnten. Annie begann Stücke zu schreiben, sich in Büchern zu verlieren und kurz litt Carl darunter, aus Angst sie darin wahrlich zu verlieren.

Die Geschichte entwickelt ein Eigenleben

Die beiden Charaktere entwickeln sich sanft und stetig. Das tun sie mehrheitlich miteinander, zeitweise eigenständig aber immer natürlich. Betty Smith hat mich nicht vom ersten Satz an mitgenommen. Sie hat mich aber nie verloren. Die Geschichte nimmt ab der Hälfte des Buches immer mehr an Eigenständigkeit auf und ich begann zuzusehen, wie Annie erwachsen wird, an sich selbst und an ihr Talent glaubt. Sich selbst wahrnimmt.

Als Frau und angehende Schriftstellerin. Zu Carl konnte ich nicht dieselbe Verbindung aufbauen. Mir reicht es aber, ihn als starken, zuverlässigen Partner für Annie gelesen zu haben und zu wissen, dass er sie nicht davon abhält, ihre Träume zu verwirklichen. Einem Leben entgegenzustreben, das ihr ein anderes ermöglichen wird, als für die große Mehrheit der Mädchen, die in dieser Zeit aufwuchsen.

Leichtigkeit und Liebe

Betty Smith ist eine hervorragende Beobachterin. Eine einfühlsame Erzählerin, die ihren Lesern einen intimen Einblick in das Leben ihrer Romanmenschen schenkt. Sie schreibt leicht und echt und genau das habe ich mir erwartet. Das Buch wird als große Liebesgeschichte gelobt. Das ist es auch. Es ist aber auch ein schönes Porträt einer Frau, die besonders ist, wie sie die Welt sieht.

Und seien wir uns ehrlich, wer ist nicht gerne für ein paar Stunden in Gesellschaft eines jungen, talentierten Paares, für das alles möglich scheint und das Leben nur darauf wartet entdeckt zu werden. Annie hat mir jedenfalls wieder ein Stück Leichtigkeit geschenkt. Danke, Betty Smith.